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Die Inflations-Lüge

Warum wir eine neue Basis für Lohnverhandlungen brauchen.

Alles in 4:44 Minuten:

Filminterview mit freundlicher Genehmigung von Dipl.-Ing. Tobias Plettenbacher (ATTAC), plettenbacher.net

 

UPDATE: Video von der Universität Innsbruck

Auf das Bild klicken, um das Youtube-Video zu öffnen.

 

Livestream von der Betriebsversammlung an der Universität Innsbruck, 23. 1. 2020 mit Univ.-Prof. DDr. Jürgen Huber, Institut für Banken und Finanzen, LFU, und Ao. Univ.-Prof. Dr. Martin Tiefenthaler, Medizinische Universität Innsbruck

 


Ultrakurzfassung:

Seit Jahrzehnten haben wir Löhne und Pensionen aufgrund geschönter Zahlen verhandelt. Wir brauchen eine bessere Basis für Lohnverhandlungen, die dem echten Kaufkraftverlust entspricht.


Das Hauptgebäude der Statistik Austria in Wien.
Das gläserne Hauptgebäude der Statistik Austria in Wien, Blick auf das gläserne Eingangsportal.
Die Statistik Austria im 3. Wiener Gemeindebezirk. Hinter dieser Glasfassade lagern riesige Datenschätze. Fotos: Sebastian Philipp

Teurer als Gold

 

Warum ist Benzin teurer als Bier? Warum kostet Druckertinte mehr als Gold? Die Währung verfällt, doch das Wirtschaftswachstum steigt weiter? Da stimmt doch etwas nicht.

 

Der „Warenkorb” von Familie Normalverbraucher

 

Es beginnt ganz korrekt: Jedes Jahr dokumentieren in Österreich 7000 private Haushalte, welche Waren und Dienstleistungen sie gekauft haben: Nahrung, Kleidung, Mieten, Dienstleistungen, Reisen, Reparaturen, Versicherungen, einfach alles.

 

Aus den wichtigsten 770 Artikeln schnürt die Statistik Austria den durchschnittlichen „Warenkorb” der privaten Haushalte. Und alle 5 Jahre werden die Waren darin aktualisiert, damit alles weiterhin vergleichbar bleibt.

 

Diese unendlich mühevolle Handarbeit ist unseren StatistikerInnen aber noch nicht exakt genug. Darum ergänzen sie das Ergebnis durch noch mehr Handarbeit: Jedes Monat fahren sie in ein großes Einkaufszentrum im Süden Wiens, denn dort gibt es praktisch alles, was das Herz begehrt, auf einem Fleck. Dort vergleichen sie mühevoll alle Produktpreise aus dem Warenkorb, damit sie garantiert aktuelle Daten haben. Und weil ihnen auch das noch nicht genügt, vergleichen sie das alles mit den Umsatzdaten des Handels.

 

Quelle: Statistik Austria, Konsumerhebung 2014/15 (PDF)
www.statistik.at/web_de/dokumentationen/menschen_und_gesellschaft/Soziales

 

Die Statistik Austria ist stolz auf ihre genauen Daten.

 


Ein winziger Einkaufswagen, gefüllt mit Schokoriegeln.
Der durchschnittliche Warenkorb von Familie Normalverbraucher sieht in jedem Land anders aus. Einen internationalen Vergleich zu finden ist selbst für Profis schwierig.

Grundlage für Lohnverhandlungen und Zinsen

 

Der „Warenkorb” heißt in der Fachsprache Verbraucherpreisindex (VPI). Die Veränderungen zum Vorjahr nennen wir übrigens Inflation.

 

Der VPI ist auch die Grundlage für Lohnverhandlungen, Kreditzinsen und für die Berechnung des Wirtschaftswachstums. Weil dieser Wert so extrem wichtig ist, macht sich die Statistik Austria auch so unfassbar viel Mühe damit.

 

Quelle: Warenkorb und Gewichtung des HVPI 2019 (PDF)

www.statistik.at/web_de/statistiken/wirtschaft/preise/verbraucherpreisindex_vpi_hvpi/warenkorb_und_gewichtung

 

Ein „harmonisierter” EU-Kompromiss

 

Die anderen EU-Staaten treiben natürlich denselben Aufwand mit ihren „Warenkörben”. Doch bei den Niederländern gibt’s z.B. keine echten Manner-Schnitten. Und bei uns gibt’s kein leckeres Vla, die bunte Puddingcreme. Jedes Land hat andere Spezialitäten und andere Konsumgewohnheiten. Wie vergleicht man nun aber die Warenkörbe unterschiedlicher Länder miteinander? Das geht fast nicht.

 

Um das Unmögliche dennoch möglich zu machen, einigte man sich auf einen Mittelweg, den harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI). Und weil der nirgendwo mehr richtig passt, rechnet jedes Land weiterhin einen eigenen Warenkorb aus. So weit, so gut.

 


So sieht die mathematische Formel für das gewichtete geometrische Mittel aus. Quelle: Wikimedia Commons, CC-BY
So sieht die mathematische Formel für das gewichtete geometrische Mittel aus. Quelle: Wikimedia Commons, CC-BY

Trick 1: Der „gewichtete Mittelwert”

 

Dass die Preise stetig steigen, stört nicht nur uns, sondern auch die Regierungen. Denn wertloses Geld macht schlechte Stimmung. Was also tun? Bessere Politik machen? Viel zu mühsam.

 

Schließlich fanden findige Köpfe in den USA eine Lösung: Wenn die Preise im Warenkorb einfach nicht mehr stiegen, so blieb die Inflation am Papier niedrig. Man musste nur die teuren Artikel im Warenkorb „korrigieren”, und den billigen Waren mehr Gewichtung (Prozentanteile) geben.

 

„Gewichtetes geometrisches Mittel” heißt die Lösung. Dazu wird alles multipliziert und dann die Wurzel gezogen. Normalerweise ist das eine übliche Methode, um unliebsame Spitzenwerte zu glätten und niedrige Zahlen zu betonen. Doch hier wird es gefährlich: Besonders teure Artikel verschwinden damit fast völlig aus dem Warenkorb und die billigeren Waren bleiben übrig.

 

Die Statistik Austria betont, dass sie dazu natürlich nicht verpflichtet sei. Welches Mittelungsverfahren sie tatsächlich benutzt, steht ihr vollkommen frei. Dennoch ist zu befürchten, dass diese Berechnung längst international üblicher Standard ist. So werden aus hervorragenden Rohdaten plötzlich krumme Zahlen für die Politik.

 

Doch der Politik ist das noch immer nicht genug.

 


Schwarzweiß-Bild: Eine Rasierklinge schneidet durch Papier.
„Hedonische Qualitätsbereinigung” nennt sich das, wenn wir am Papier nur noch „Zehntel-Computer” und „Halb-Autos” kaufen, in „Drittel-Wohnungen” wohnen und „halbe Bücher” lesen. So rechnet der Staat die Inflation künstlich niedrig.

Trick 2: „Hedonische Qualitätsbereinigung”

 

Dass sich auch die Waren und Preise im Warenkorb ständig ändern, ist nur natürlich. Alle 5 Jahre wird daher die Zusammensetzung des Warenkorbes vorsichtig angepasst.

 

Wenn etwa ein Klopapier vom Markt verschwindet, suchen die StatistikerInnen nach einem vergleichbaren Neuen. Um die Waren trotzdem weiterhin vergleichen zu können, wird nun neben dem Preis auch die „Qualität” in die Berechnung mit einbezogen. Das wird für jeden einzelnen Artikel gemacht und ist schrecklich mühsam. Aber der Warenwert soll schließlich über die Jahre vergleichbar bleiben.

 

Diese (gut gemeinte) Trennung von Preis und Qualität lässt sich jedoch für einen ganz billigen Trick missbrauchen. Den erfand Hans Wolfgang Brachinger (1955-2011), Professor für Statistik an zahlreichen Universitäten, während seines Studiums in den USA. Und nun wird es so richtig absurd:

  • Weil Computer immer leistungsfähiger werden, kaufen wir nach „hedonischer Qualitätsbereinigung” nur noch „Teil-Computer”. Denn der Wert ist in all den Jahren stark gestiegen, nicht aber der Preis.
  • Dasselbe bei Fahrzeugen – laut Warenkorb kaufen wir statistisch nur noch „Teil-Autos” und „Teil-Fahrräder”. Denn auch hier gibt’s inzwischen mehr Leistung und Funktionalität zum selben Preis.
  • In den letzten Jahren stieg auch der Wohnwert. Dank besserer Verkehrslage, höherem Erholungswert und besserer Dämmung wohnen die meisten von uns statistisch betrachtet nun in „Drittel-Wohnungen”.
  • Wir lesen auch längst nur noch „Buch-Anteile”, tragen „Mini-Röcke” und telefonieren mit „Viertel-Telefonen” – wenn auch anders designed als früher...

Die Destatis erklärt diese und andere offizielle Methoden sehr gut:

www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Preise/Verbraucherpreisindex/Methoden/qualitaetsbereinigung.html

 

 


Wenn ein Vergleich trotzdem ganz besonders schwer fällt, entscheiden die StatistikerInnen einfach aufgrund ihrer „Erfahrung” über die qualitative Änderung, wie die Destatis ungeniert erklärt. Seriöse Mathematik sieht anders aus.

 

Die Statistik Austria betont, dass all diese Methoden optional sind. „Der Verbraucherpreisindex wird mit statistischen Methoden berechnet, welche von internationalen und nationalen fachstatistischen Experten entwickelt und deren Verwendung gewissenhaft geprüft wurde.”

 

 

Kaufkraft ausgewählter "Währungen" von 1950-2005. Die Prozentwerte basieren auf der Kaufkraft von 1950. Bild: Tobias Plettenbacher, "Neues Geld - Neue Welt", plettenbacher.net. Creative Commons CC-BY
Kaufkraft ausgewählter "Währungen" von 1950-2005. Die Prozentwerte basieren auf der Kaufkraft von 1950. Bild: Tobias Plettenbacher, "Neues Geld - Neue Welt", plettenbacher.net. Creative Commons CC-BY

Trick 3: Billiger Ersatz

 

In Österreich selten gesehen, in den USA aber umso häufiger:

Wenn statt teurem Rindfleisch im Warenkorb plötzlich billigere Pute liegt, billigerer Käse oder Klopapier mit weniger Lagen, haben sich die Konsumgewohnheiten der Bevölkerung vielleicht gar nicht geändert. Mit billigeren Artikeln lässt sich nämlich die Inflation beschönigen. „Surrogat-Ansatz” nennen die Statistiker dieses Austauschen gegen Billigwaren.

 

Um dem vorzubeugen, wählt die Statistik Austria (nach Möglichkeit) beliebte Markenartikel für den Warenkorb, die sich schwerer durch günstige Diskontprodukte ersetzen lassen.

 

Trick 4: Die Umkehrlogik

 

Nicht immer wird bei Konsumgütern der Preis nach unten „gerechnet”. Dasselbe funktioniert natürlich auch in die umgekehrte Richtung. Wenn es dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) hilft, kann eine Produktverbesserung auch gezielt zu einem höheren Preis im Warenkorb führen – obwohl der echte Preis gar nicht gestiegen ist. So einfach lässt sich das BIP „korrigieren”.

 

Dass das in den USA seit langem der Fall ist, zeigt der Mathematiker John Williams auf www.shadowstats.com

 


Trick 5: Die Rhetorik

 

Weil die Kritik aus der Bevölkerung trotzdem anhält, wird uns die reale Teuerung einfach als „gefühlte Inflation” verkauft. Die Wirtschaft nennt sie lieber „wahrgenommene Inflation”, denn was wir wahrnehmen, ist ja nicht immer real. Diese Wortwahl ist Absicht. Sie soll uns vorgaukeln, dass wir uns selbst belügen.

 

Wer belügt hier wen? Belügt mich mein Kontostand? Irrt er sich etwa? Oder ist er gar nicht real, sondern nur „gefühlt”?

 

Der Selbsttest

 

Für Neugierige:

www.statistik.at/persoenlicher_inflationsrechner

www.statistik.at/Indexrechner

 

Hier könnt ihr euch euren ganz individuellen Warenkorb zusammenstellen und eure „persönliche Inflation” individuell ausrechnen lassen. Ein kostenloser Service der Statistik Austria für kritische KonsumentInnen.

 

Wer aber trotzdem mit der Berechnung der Statistik Austria nicht einverstanden ist, muss eben doch selbst nachrechnen (siehe unten).

 

 


Selbst nachgerechnet: Die reale Teuerung beträgt 14 Prozent.

Fazit:

Eine neue Berechnung nach dem echten Kaufkraftverlust ist für künftige Lohnverhandlungen nötig!


Hyperinflation in Deutschland 1923. Die Ersparnisse wurden wortwörtlich verheizt. Bild: Tobias Plettenbacher, "Neues Geld - Neue Welt", plettenbacher.net. Creative Commons CC-BY
Hyperinflation in Deutschland 1923. Die Ersparnisse wurden wortwörtlich verheizt. Bild: Tobias Plettenbacher, "Neues Geld - Neue Welt", plettenbacher.net. Creative Commons CC-BY

Nachsatz: Warum wird alles teurer?

 

  1. Ursache sind Zinsen und Zinseszinsen. Jedes Kindergartenkind versteht, dass man gar nicht mehr Geld zurückfordern kann, als man verliehen hat.

  2. Früher war ein Geldschein eine Quittung für echte Wertsachen, die in einem Depot lagerten. Auf heutigen Geldscheinen ist davon nichts mehr zu lesen. Unsere Währungen haben keinen echten Gegenwert.
  3. Etwa 99,7% unseres „Geldes” sind nur Zahlen im Computer, also nur Luft. Wenn es Luftschlösser gäbe, wären dann Aktien, Optionen und Derivate nur noch Spiegelbilder in den Seifenblasen. Der Wert aller Aktien übersteigt übrigens längst das Bruttosozialprodukt der gesamten Erde um ein Vielfaches.

Jede Religion lebt vom Glauben. Heute ist das wohl größte Wunder am Euro, dass wir daran glauben.

 



Download: Daten und Tabellen

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Vortrag Prof. DDr. Jürgen Huber, Universität Innsbruck
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Vortrag Dr. Martin Tiefenthaler, Universität Innsbruck
Vortrag Tiefenthaler GÖD-BV13-Info-KV.pd
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Diagramme: Inflation Österreich
Quelle: Tobias Plettenbacher, Creative Commons CC-BY
plettenbacher.net - Diagramme Österreich
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Diagramme: Inflation EU-USA-Welt
Quelle: Tobias Plettenbacher, Creative Commons CC-BY
plettenbacher.net - Diagramme EUR-USA-We
Microsoft Excel Tabelle 1.1 MB


Quellen:


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