Mit dem Intro, dass die Zukunft von Kindern in Frage gestellt wird, wenn sie alleine gelassen werden, eröffnet Reinhart Sellner das Plädoyer für eine Bildungsreform, die nicht ausschließen und abschieben darf, sondern jeden Menschen mit seinen unverwechselbaren Fähigkeiten wichtig nehmen muss. Im kongenialen Zusammenwirken mit Angie Weikmann und Michael Wagner erfahren wir unaufgeregt, aber in beklemmender Dichte wie krank unser aktuelles Bildungssystem ist, gefolgt vom Hinweis, dass die Folgen davon bis zu zwei Generationen später sichtbar wirken werden.
Österreich geht auf Distanz zur ratifizierten UN-Konvention
Wenn Angie Weikmann von Segregation und dem Aussortieren von Teilen der Gesellschaft spricht, so mögen wir uns vorübergehend in ein Anti-Rassismus-Seminar versetzt fühlen. Tatsächlich jedoch geht es darum, wie man in unserem Land mit behinderten Kindern verfährt, ihnen inklusiven Unterricht verwehrt und ihnen damit die Ausbildung für eine erfolgreiche Berufslaufbahn vorenthält. Weikmann weiß als Mutter eines Sohnes mit Behinderung wovon sie spricht und sie weiß auch, dass die UN-Behindertenrechtskonvention seit 2008 in Österreich ín Kraft ist, aber keine Kraft entfaltet, mangels vorsätzlich verweigerter Umsetzung. Anders kann man es nicht interpretieren, wenn man sich den aktuellen, dritten periodischen Bericht des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen vor Augen führt. Dort ist von ernsthafter Besorgnis über Österreichs Rückschritte im Bereich der inklusiven Bildung, von der Forderung, den Ausbau des segregierten Schulsystems unverzüglich zu beenden, sowie die Ausbildung von Lehrkräften im Bereich der inklusiven Bildung neu zu gestalten und auszubauen, zu lesen. Gewerkschaftliche Forderungen auf UN-Ebene, wahrlich kein gutes Zeugnis für unser Land. Die niederösterreichische Landeshauptfrau sieht es dennoch gelassen, weil ihr Bundesland die Konvention nicht unterschrieben habe. Kaum zu glauben, dass man den verstrickten Föderalismus im Schulbereich noch perfide toppen kann! Unverzeihlich auch, dass man die sozialwirtschaftlichen Folgekosten übersieht: Segregation kommt teuer zu stehen. Der barrierefreie Zugang für behinderte Kinder zu Schulabschlüssen würde dem akuten Arbeitskräftemangel entgegenwirken. Verweigerung der Inklusion ab dem Kindergarten, Notenpflicht ab dem zweiten Jahr Volksschule und das schmerzhafte Fehlen von qualifiziertem Fachpersonal wirken in Summe kontraproduktiv und das gilt auch für Kinder aus sozial schwachen Familien bzw. solchen mit Migrationshintergrund.
Der Stempel der Wertlosigkeit für aussortierte Kinder
Michael Wagner holt historisch aus: Die Gastarbeiterbewegung ab Ende der 1960er Jahre, der Balkankrieg, Syrien und Ukraine haben in Österreich zu einer unglaublichen Vielfalt auf engem Raum geführt. Doch die Chancengleichheit wurde verspielt, sondern eine Realität etabliert, in der das soziale Umfeld den Startvorteil einzementiert. Startnachteile haben aber auch Alleinerziehende und wir übersehen in diesem System vollkommen, dass in jedem Kind Potential steckt. Die Selbstwertentwicklung wäre der Schlüssel zum Erfolg, so aber lernen aussortierte Kinder, dass sie nichts wert sind und ihnen die Verankerung in der Gesellschaft vorenthalten wird. Um den Gesamtzugang ins Bildungswesen zu reformieren, müssten grundsätzlich neue Rahmenbedingungen geschaffen werden, anstatt sich auf kleine Stellschrauben zu verlassen, womöglich im Rahmen der Schulautonomie, die es in Wahrheit nicht gibt. Eine Gesamtänderung der Verfassung des Bildungswesens wäre mit einer unglaublichen Steigerung der Gesamtrentabilität verbunden, demnach also mehr zurück zu bekommen, als zu investieren wäre.
Historischer Rückschritt von Comenius über Kreisky bis heute
Reinhart Sellners historischer Blick zurück führt zum Befund, dass die „integrierte Gesamtschule“ Bruno Kreiskys kompromissbedingt nichts gebracht hat, um den von Johannes Comenius im 17. Jahrhundert formulierten Grundsatz „Allgemeinbildung ist Bildung von allen in allem“ zum Leben zu erwecken. Sellners Postulat „Bildungspolitik ist Sozialpolitik“ wird in Österreich durch Landesparteipolitik nach dem Vorbild der alten Kronländer mit der Zuständigkeit für fast 70.000 Landeslehrer:innen konterkariert. Steakholder ist der Bund, der zahlen darf. Die gegenwärtige Schulautonomie brauchen wir nicht, weil sie nur die Mängel verwaltet.
Optimistischer Ausblick?
Es bedarf vielmehr selbstbewusster Schulleitungen und deshalb eine Bewegung von unten, den Druck durch die Wähler:innen, um zu erreichen, dass Geld für Bildung nicht doppelt und dreifach verwaltet wird. Wir brauchen eine Bildungsbudgetpolitik, die für soziale Umverteilung steht. Es geht um Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit und Arbeitseinkommen. Die fünf Lehrergewerkschaften agieren leider eher nebeneinander als zielgerichtet und lassen die Solidarität mit dem ÖGB vermissen. Baustellen also, wohin das Auge reicht und deshalb zurecht die Perspektive, dass der Strukturwandel zwei und mehr Legislaturperioden in Anspruch nehmen wird. Untermauert werden die Forderungen mit einer aktuellen Umfrage des Österreichischen Bundesverlags unter Lehrer:innen mit dem Ergebnis von 62% Unzufriedenheit mit dem herrschenden System und dem Wunsch nach einer gemeinsamen Sekundarstufe.
Siehe auch:
science.apa.at/power-search/7123233795666903496
Stefan Schön
UGÖD Pressesprecher