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Nachlese zum UGÖD-Café: Prekariat und Chancengleichheit in der Arbeitswelt

UGÖD-Café

November 2022

Bericht zum UGÖD-Café:

Prekariat und Chancengleichheit in der Arbeitswelt

15. 11. 2022


Ein Esel mit Karotte

Begonnen haben wir unseren Austausch mit der Suche nach brauchbaren Definitionen für den Begriff „Prekariat“. Wir haben viele Definitionsversuche gefunden in den Bereichen Philosophie, Soziologie, Geschichte und Arbeitsmarktpolitik.

 

Nach einer Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) liegt eine prekäre Beschäftigung dann vor, wenn der Erwerbsstatus eine geringe und befristete Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie wenig Integration in den Betrieb und wenig Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der Arbeitssituation gewährt, wenn arbeitsrechtlicher Schutz lediglich partiell besteht und wenn die Chancen auf eine materielle Existenzsicherung durch die betreffende Arbeit eher schlecht sind.

 

Unser Ziel ist, dass wir Forderungen an unsere gewerkschaftlichen Vertretungen zur Wiederherstellung der Chancengleichheit in der Arbeitswelt formulieren.

 

Seit Mitte der 1990-iger Jahre wurden von wechselnden Regierungen Betriebe aus den Bereichen Wissenschaft und Forschung, Bildung und Kultur, Soziales und Daseinsvorsorge, Gesundheit und Pflege aus dem öffentlichen Dienst ausgegliedert. Aufgrund sparsamer Dotierung bei der jeweiligen finanziellen Ausstattung solcher Betriebe – in der Regel ohne automatische Indexanpassung – werden Beschäftigte in diesen ausgegliederten Betrieben zur flexiblen Manövriermasse bei andauerndem Einsparungsbedarf – mit und ohne Kollektivvertrag.

 

Daraus entstanden mit den Jahren und mit der Zunahme von krisenhaften Situationen in unserer demokratischen Republik akademisches und kreatives Prekariat, Bildungs- und Weiterbildungsprekariat, Freelancer und Jobnomaden, Einpersonenunternehmen (EPU) und unfreiwillig selbständige Erwerbstätige – insgesamt eine große Menge an flexiblen Arbeitnehmer:innen, die an der chancengleichen Teilhabe am Erwerbsleben gehindert werden. Wie sich diese flexiblen Beschäftigungsverhältnisse langfristig auf das Erwerbsleben und die demokratische Teilhabe auswirken werden, ist teilweise schon absehbar.

 

 


Befristete Dienstverträge in der Schule

 

Aus dem Bereich Schule wurde uns die Form der auf 10 Jahre befristeten Dienstverträge für Lehrer:innen vorgestellt, die trotz hohen Bedarfs an Lehrpersonal und trotz Fehlens formeller Kriterien zur Anwendung gelangten. Dagegen haben sich die Lehrergewerkschafter:innen erfolgreich gewehrt und seit 2017 können Verträge für Lehrer:innen, auch wenn diese Lehrer:innen ihre Ausbildung erst noch abschließen müssen, nur mehr auf 5 Jahre befristet werden. Ab dem 6. Jahr entsteht ein Dauervertrag. Die 5 Jahre entstehen kontinuierlich, auch wenn der Einsatz der Lehrperson in verschiedenen Bereichen stattfindet und z.B. durch Ausbildungsphasen unterbrochen wird. Wegen des dringenden Bedarfs an Lehrpersonal, bewirbt das Bildungsministerium zwar den Lehrberuf, war aber nicht bereit zu einer 2-jährigen Befristung, daher ist diese Vertragsform noch immer prekär zu nennen.

 

Können wir als UG fordern, dass während der Zeit des Berufseinstieges von Lehrpersonen den Bildungsdirektionen gegenüber Berichtspflicht herrschen soll und ihnen ein Vetorecht gegen das Auslaufen eines Vertrages nach 5 Jahren einräumen – etwa mit einem jährlich von der Schulleitung und der Lehrperson auszufüllenden standardisierten Onlinefragebogen?

 

 

Universitäten

 

Der nächste Themenkreis betraf Universitäten. Lehrende an Universitäten haben in der Regel 50 Minuten Zeit, um ein Lehrprogramm so spannend zu vermitteln, dass die Konzentration der Studierenden in der gesamten Präsentationszeit aufrecht bleibt. Mit der Kettenvertragsregelung nach § 109 UG sind die Universitäten an ein EUGH-Urteil gebunden. GÖD-Vorstandsmitglieder kennen die Lehrer:innen-Regelung zur Qualifikation auf Dauer bereits und haben sich positiv für die Universitäten eingesetzt, sind aber an den Rektor:innen gescheitert, die Befristungen auf 6 + 8 + 12 Jahre befürwortet haben.

 

Der Paragraph 109 UG hatte zunächst 3 Absätze, jetzt besteht er aus einem Sammelsurium von 9 Absätzen und befristete Verträge auf eine Gesamtdauer von 24 Jahren sind möglich! Selbst in der Laufbahnentwicklung gibt es eine Einschränkung auf 12 Jahre, danach ist ein assoziierter Professor durch die Novellierung noch einmal für 6 Jahre befristbar! Erstaunlich ist, dass sich Professor:innen nicht zur Wehr setzen.

 

Als soziale Folge solcher Regelungen zeigt sich beim wissenschaftlichen Personal etwa eine langfristige Verzögerung bei der Familiengründung oder der Verzicht auf ein Familienleben. Dennoch ist festzustellen, dass immer häufiger auch die Befristungen beim allgemeinen Personal überhand nehmen. Über § 109 wird dieses Problem allein nicht zu lösen sein, denn die Universitäten schöpfen alle denkmöglichen Prekariate noch gar nicht aus – wie z.B. Leiharbeit, Arbeit auf Honorarbasis, Werkverträge und freie Dienstnehmer:innenverträge.

 

Selbst erfolgreiche Feststellungsklagen bewirken nur eine Verkürzung der Befristungszeit: Lektor:innen sind jetzt auf 8 Jahre befristet und es wird überlegt, noch vor dem 8. Jahr zu entfristen, wenn schon 6 Jahre der Beschäftigung vollendet sind. In inhaltlichen Kollektivvertragsverhandlungen wird mit Nebelgranaten gearbeitet: Keine/r kenne sich aus und es wird behauptet, dass es dann noch soweit komme, dass sogar in Drittmittelprojekten entfristet und fixangestellt wird. Befristungen sind bereits in die Ausschreibungen von Professuren gelangt und ein genereller Trend in der Arbeitswelt zeigt in die Richtung: arm trotz Bildung! Ein Grundproblem ist fehlende Planung einer Personalstruktur!

 

Im Rahmen von Kollektivvertragsverhandlungen ist der KV der außeruniversitären Forschungseinrichtungen tabu, weil er von Anfang an viel besser verhandelt wurde. Das Argument, dass manche Bereiche in Wissenschaft und Lehre nicht gewinnorientiert arbeiten können – z.B. Grundlagenforschung in der Soziologie, Geschichte etc. – wird nicht zugelassen – „wer bietet mehr“ wird umgekehrt in „wer bietet weniger“. Die Ausgliederung der Universitäten aus dem öffentlichen Dienst war der eigentliche Unsinn – Bildung gehört zur Daseinsvorsorge und ist damit eine Aufgabe der öffentlichen Hand!

 

 



Sozial- und Gesundheitsbereich

 

Im Sozial- und Gesundheitsbereich der Stadt Wien dienen Befristungen dazu, dass immer wieder billigere Neueinsteiger:innen in den Sozial- und Gesundheitsbereich kommen. Die Idee, dass besonders der weibliche Mensch von sich aus zur Fürsorge neigt, hat schon im 19. Jahrhundert zur Entwicklung prekärer Beschäftigung im Pflegebereich geführt – der Lohn für eine pflegende Nonne war ein Bett. Alle Teilnehmenden am UGÖD-Café bringen zum Ausdruck, dass sie höchsten Respekt vor allen Pflegenden haben. Es ist entsetzlich, dass die höherwertige Ausbildung sich nicht unmittelbar auf die Entlohnung auswirkt.

 

Große Probleme bestehen in der Krankenpflege, weil die Beschäftigten nach der Arbeit überwiegend erschöpft sind. Die Leitungen im Pflegedienst kümmern sich um sparsame ökonomische Durchführung von Pflegeaufgaben, aber nicht wirklich um pflegende Arbeitskräfte. Weibliche Pflegende und weibliche Außendienstmitarbeiterinnen genießen kein hohes Ansehen, obwohl sie enormes Wissen erwerben im Studium wie im Arbeitsalltag. Trotz immer mehr Pflege-Know-how setzt sich dennoch das alte Vorurteil durch: Pflege beruhe auf Menschenliebe!

 

Strukturprobleme in Verbindung mit den Rahmenbedingungen sind feststellbar: Kleine Arbeitszeiteinheiten mit langen Pausen zwischen den Einsatzzeiten führen dazu, dass Frauen in der Pflege arbeiten und kaum Geld verdienen. Unvereinbar ist 40-Stunden-Arbeit mit Nachtdiensten für Frauen mit Kindern, dennoch stellen sich viele Personen als willige Werkzeuge zur Verfügung – und müssen bald wieder aufgeben. Mit der Anerkennung wissenschaftlich fundierter Ausbildung wird ein elitärer Bereich für wenige Personen geschaffen. Die Sozialgesetz-Reform ermöglicht aber auch die Ausbildung in einem Jahr und dann ergibt sich, dass unter der Leitung einer hochqualifizierten Person viele Personen als Hilfskräfte viel billiger arbeiten.

 

Ein Problem ist zu sehen in der „jederzeit möglichen“ Kündigung – da besteht Handlungsbedarf für die Änderung des Arbeitsverfassungsrechts!

 

 

Kulturbereich

 

Aus dem Kulturbereich ist zu berichten, dass in technischen und wirtschaftlichen Bereichen mit marktüblichen Preisen und mit Überzahlungen gearbeitet wird, dass aber die wesentlichen kulturellen Dienstleistungen an sich nicht hoch angesehen sind und daher auch prekär erbracht werden können. Diese kaufmännische Sicht auf den Kulturbereich beruht auf einer Teilzeitstudie aus den 80-ger Jahren, in der die Behauptung aufgestellt wird, dass Leute im halben Tag viel mehr leisten als in einer Vollzeitbeschäftigung. Geschäftsführungen in ausgegliederten Kulturbetrieben wenden das Killerargument, dass mit Steuergeld sorgfältig und sparsam umzugehen ist, regelmäßig an. Das führt jedoch inzwischen so weit, dass einzelne Geschäftsführer behaupten, die Bundesmuseen stehen in Konkurrenz zur Freizeitindustrie – Museum contra Wurschtelprater! Im einzigen Kollektivvertrag im Bereich der Bundesmuseen gibt es eine Flexi-Klausel: Kulturvermittler:innen erhalten Verträge, in denen pro Monat 1 Führung durch 1 Ausstellung als Fixum bezahlt wird – wer viele Führungen macht, verdient viel. Ab dem ersten Lockdown im März 2020 und bei lang anhaltender Museumssperre bekamen die Kolleg:innen jedoch nur mehr das vereinbarte Fixum – das war ein Schock für viele! Die Betriebsräte in dem Bereich haben diese Regelung schon lange bekämpft, jetzt will auch die GÖD sie abschaffen, wenn es zur Fortführung der Verhandlungen um einen Kollektivvertrag für alle Bundesmuseen kommt.

 

 



Fragen

 

Folgende Fragen haben sich in unserer Gesprächsrunde ergeben:

 

  • Wie lange ist ein Kollektivvertrag zu verhandeln, um zu so guten Regelungen und Ergebnissen zu kommen, wie sie z.B. der 70 Jahre alte Kollektivvertrag der Metaller:innen jetzt bietet?
  • Müssen Betriebsräte öfter und mehr klagen?
  • Was bedeutet eine Streikdrohung, wenn die Gewerkschaftsdichte in den Betrieben fehlt?

 

Für alle besprochenen Bereiche gilt:

 

  • an der Leistungsbereitschaft von Kolleg:innen ist nicht zu zweifeln
  • es gibt keinen Anreiz mehr über Geld
  • die Überlastung ist schon viel zu groß
  • je weniger Demokratie, desto mehr Prekariat!

 

Nur mehr kurz umrissen werden konnten:

 

  • Zustellbetriebe und Transportunternehmen arbeiten über Plattformen: der Zusteller least den Arbeitnehmer als Dienstleister, das betrifft Fahrradbot:innen, Köch:innen und viele andere Arbeitnehmer:innen, die viel und lange schuften, um ein klein wenig Geld zu verdienen.
  • Buchungen von Musiker:innen über Konzertagenturen verlaufen auch oft in prekären Formen, mit dem FairPay-Gehaltsschema des BMKÖS gibt es eine neue veröffentlichte Verhandlungsbasis.
  • Journalist:innen sind übrigens auch überwiegend prekär beschäftigt, vielleicht ist das auch mit ein Grund für die parteifreundliche Berichterstattung, die manche durchaus sichtbar pflegen.
  • Alle diese prekären Beschäftigungsverhältnisse stehen jedoch in keinem Vergleich zum Handel mit Fußballern(!)

 

Der Zusammenhang von Demokratie und Prekariat

 

Die Verschlechterungen der Arbeitsstandards hemmen eine demokratische Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Das AMS fordert eine „Mobilität der Arbeitslosen“ und wir stellen immer wieder fest, dass Arbeitslose der „Inbegriff der Immobilität“ sind.

 

 

Prekäre Arbeit hat viele Gesichter:

  • Der Personalkostenanteil der Unis liegt bei 80 Prozent des Gesamtbudgets, im künstlerischen Uni-Bereich sind 90 Prozent der Beschäftigten in befristeten Dienstverhältnissen tätig
  • Eine Folge aus prekärer Beschäftigung ist, dass es z.B. für die „Generation prekär“ keine Kredite gibt.
  • Wenn irgendwann in nächster Zeit auch Erben nicht mehr gehen wird, weil die Teuerung kleine Vermögen auffrisst, dann wird das Leben wirklich prekär!
  • Deshalb müssen Unabhängige Gewerkschafter:innen bei jeder Gelegenheit Demokratie trommeln
  • und eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich fordern!
  • Die 4-Tage-Woche ist ein richtiger Weg, verknüpft mit Arbeitszeitverkürzung, auch bei zu wenig Personal.
  • Wir müssen und wollen gute Beschäftigungsbedingungen für die Menschen schaffen!

 

 

Beate Neunteufel-Zechner

UGÖD-Referat für Strukturwandel

 

 



UGÖD-Jahresthema

Grafik: Jahresthema Chancengleichheit

Unser Jahresthema für 2022 ist die Chancengleichheit, der wir besondere Aufmerksamkeit und viele spannende Treffen widmen, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen.